R.I.P. Mark E. Smith

Mark E. Smith

Vorhin habe ich zufällig mitbekommen, dass Mark E. Smith am gestrigen Mittwoch, dem 24. Januar 2018 verstarb. Manmanman, wer hätte gedacht, dass der überhaupt sterblich ist? Der Heilige Geist des (Post-)Punk. Man dachte einige Zeit nicht mehr an ihn, zack, plötzlich umwaberte er einen wieder mit einem neuen „The Fall“-Album; und wenn man Glück hatte, fiel einem sogar zufällig ein Vinyl-Exemplar beim Händler des Vertrauens in die Hände.

Wäre ja auch nicht verwunderlich gewesen, wenn das Projekt „The Fall“ irgendwann ausgelaufen wäre – angeblich hat MES in den 40 Jahren des Bestehens um die 60 Musiker*innen verschlissen. Wir konnten es einmal quasi live erleben: Da spielten The Fall in Stuttgart-Wangen, im Longhorn/LKA, Ende der 1980er-Jahre, zur Zeit von „I Am Kurious Oranj“ und „The Frenz Experiment“. Irgendwas störte MES, an einem klassischen Notenpult stehend, an seinem Drummer. Schließlich warf er ihm seinen Bier-Pappbecher an den Kopf. Keine Ahnung, ob er mit diesem Drummer die Tour beendete oder unterwegs einen neuen aufgabelte.

Wir wussten ja bereits um seinen Ruhm als Band-Diktator. Nachdem wir ihn beim Konzert erlebt und gesehen hatten, hieß er bei uns dann nur noch „der Knautsch-Gnom E.“ – wenn man sich das Beitragsbild anschaut, weiß man warum. Hat sich in den letzten 30 Jahren noch richtig gut gemacht! R.I.P.M.E.!

Roll into Electricity

Panther Burns

Der hier abrufbare Text: Roll into Electricity befasst sich mit einer Band bzw. eher einem losen Kollektiv von Musikern um die zentrale Figur Tav Falco herum, das Mitte der 1980er-Jahre meine Aufmerksamkeit weckte und dessen Aktivitäten ich seither mal mehr, mal weniger intensiv verfolg(t)e – was freilich auch daran liegt, das Panther Burns in den letzten Jahren mal mehr, mal weniger aktiv waren.* Ausformuliert hatte ich den Text für einen Vortrag plus DJing im „Wiesengrund“ in den Katakomben des Sudhaus Tübingen, einer dreimonatigen Veranstaltungsreihe im Sommer 1999 oder 2000, die man als Keimzelle der etwa sieben Jahre währenden, jeden Dienstag stattfindenden Veranstaltungsreihe „Zátopek im Club Voltaire“ ab April 2001 betrachten darf – deren Gründungsmitglied ich dann wiederum war. Insofern beinhaltet der Text nicht nur einige der weiterhin für mein Denken und kulturwissenschaftliches Interesse relevanten Themen. Er ist für mich auch bedeutsam als quasi Keimzelle meiner öffentlichen Aktivitäten als Veranstalter, Vortragender und DJ. Hach!, these foolish, sentimental things…

* Tav Falco veröffentlichte 2011 mit „Ghosts behind the Sun: Splendor, Enigma & Death“ (Creation Books, o.O.) eine umfassende Musikgeschichte Memphis’, die selbstverständlich auch die Geschichte von Panther Burns erzählt. Zusammen mit „Bluff City Underground: A Roman Noir of the Deep South” von Erik Morse (ebd.) bildet sie das Diptychon „Mondo Memphis“ vol. 1 & 2.

If I were a song

Brent Cash_How Strange It SeemsBrentCash_How Will I Know

Wäre ich ein Lied, dann sehr gerne eines auf einem Album von Brent Cash aus Athens, Giorgia. Nicht nur wüsste ich mich dort in allerbester Gesellschaft, ich würde auch auf dem großartigen Hamburger Label Marina Records von Frank Lähnemann und Stefan Kassel erscheinen sowie in einem von letzterem stilsicher gestaltete Cover stecken.

Brent Cash veröffentlichte dort bislang die beiden Alben „How Will I Know I’m Awake“ (2008) und „How Strange It Seems“ (2011) – und insbesondere letzteres ist wie dazu geschaffen, einen über die trübe Winterzeit in den Frühling hinüberzuretten. Kann man doch die Musik von Brent Cash unter das aparte Genre „Sunshine Pop“ subsumieren, das ursprünglich für amerikanische Musik der 1960er und 70er erfunden wurde, die ganz besonders sonnig und blumig daherkommt.

Und das beeindruckende an Brent Cash selbst: Über den Erfolg seiner Musik stellt er seine absolute Unabhängigkeit in den Produktionsmitteln – und veröffentlicht sie eben lieber auf einem liebevoll gepflegten, idealistischen und individualistischen Label, als sich einem großen Musikkonzern anzudienen. Dazu bemerkte er einmal, „dass ihm kommerzieller Erfolg nicht besonders wichtig sei. Er habe einen richtigen Job, und die Musik sei sein luxuriöses Hobby. ‚Sie macht mich glücklich.‘“* An diesem Glück teilzuhaben, lädt er uns mit seinen Alben ein.

„How Strange It Seems“ beginnt mit einer Trinität von Songs, die eine perfekte Pop-Single abgäben (und hätte ich ein paar Euro übrig, würde ich persönlich sie finanzieren wollen – vielleicht starte ich dazu ja noch eine kleine Crowdfunding-Initiative…).

Auf der A-Seite wäre „I Wish I Were A Song“, mit einem Intro, das an einen 1960er-Film-Soundtrack erinnert; dann ein paar ruhige Klavieranschläge, bevor das Lied nach und nach in voller Pop-Blüte aufbricht, mit einer opulenten Instrumentierung, die so manchem lächelnden Beach-Boy-Klassiker die Hand reicht, inklusive Surf‘s-Up-Elephant-Brass.

Auf der B-Seite zuerst das Stück „It’s Easier Without Her“, das sich in den Top-10-Himmel aller jemals erschienenen Songs über das alte Frau-Mann-Beziehungsspiel aufschwingt, getragen von Damenchor, Harpsichord und Trompete. Und den Abschluss bildete das instrumentale „I Can’t Love You Anymore Than I Do“, das jedem Retro-Spy-Movie als Titelsong zur Ehre gereichen würde und einen in 2:42 Minuten auf eine kleine musikalische Reise rund um die Welt mitnimmt.

Und so geht es weiter mit einer Kette brillanter Songs, bis hin zu „Don’t Turn Your Back On The Stars“ und der Mini-Oper „I Just Can’t Look Away“, die ein bisschen daherkommen, als spielten, sagen wir: die White-Album-Beatles Wagner und würden dann wiederum gecovert von Laibach.

Und das ganze Album endet, nach einem kurzen Epilog, mit einem sehr charmanten

„Plong“.

* Zitat: Christoph Dallach: „Geheimtipp Brent Cash. Ein luxuriöses Hobby namens Sunshine-Pop“, Spiegel Online, 03. Juni 2011; auch zu finden auf Brent Cashs eigener Webseite.

Carnival of Souls

Pere Ubu - Carnival of SoulsUbu

Vor wenigen Tagen erschien mit „Carnival of Souls“ (Fire Records) das 18. Album von Pere Ubu – in deren inzwischen 40jährigen Band-Historie. Und es ist ein großartiges Album geworden, das einen in einen ganz besonderen Sound-Kosmos entführt, aber ganz anders als beispielswiese das Vorgängeralbum „Lady from Shanghai“. Beim aktuellen Album ist deutlich zu spüren, dass es kollektiv aus gemeinsamen Improvisationen und Soundexeperimenten heraus entstand, also wie aus einem Guss. Eine zusätzliche, sehr lyrische Ebene fügt das Klarinettenspiel von Darryl Boon dem Ganzen hinzu. Ich bin beeindruckt.

Obwohl auf Basis einer Live-Performance zu dem Film „Carnical of Souls“ (1/2) entstanden, besagt ein Aufkleber auf dem Cover der LP: „No. The Album is not about the movie. (…)“ Und auf der Cover-Rückseite heißt es: „It’s about a guy by a river. After awhile he takes some clothes off and jumps in the water. He drops to the bottom where he looks up and watches the moon as he’s dragged downstream for as long as he can hold his breath.” Damit paraphrasieren Pere Ubu von einer anderen Seite her einen Moment der Kurzgeschichte von Ambrose Bierce.

Zwischen die Songs sind ca. einminütige, „Strychnine“ benannte Klancollagen eingestreut (zumindest in der Vinyl-Version, die CD-Version beinhaltet stattdessen ein zwölfminütiges, abschließendes Stück; der beiden Versionen beiliegende Download-Code ermöglicht einem den Zugang zu einer Version, die beides beinhaltet). Zum fünften „Strychnine“-Intermezzo heißt es in den Linernotes, es enthalte einen Morsecode, der „Merdre Merdre“ laute. Das ist freilich ein famoser selbstreferenzieller Einfall (3), ganz auf der Ebene des (Sound-)Humors, der sich von Anfang an durch das Pere Ubu-Werk zieht – etwa, wenn David Thomas in einem der frühesten Stücke, „Final Solution“ von 1976, singt: „Guitars gotta sound like a nuclear destruction“ und dann den Bruchteil einer Sekunde später, anstatt des zu erwartenden Gitarrengewitters, der diesen Song bislang begleitende Gitarren-Krach abricht und für drei Sekunden einer Stille Platz macht, deren Bedrohlichkeit durch ein minimales Hintergrundgeräusch, wie der ferne Nachklang einer Explosion, zusätzlich gesteigert wird.

Beim zweiten, dritten Durchhören des Albums wurde mir plötzlich auch klar, warum ich diese Art von Musik derart liebe: Geräusche repräsentieren schlichtweg das Leben! Das mag im ersten Moment vielleicht seltsam klingen, aber je mehr man sich mit solcher Musik auseinandersetzt, desto mehr wird einem klar, dass hier ein Prozess einsetz, der einen befähigt, die Umweltgeräusche als Sounds oder Quasi-Musik und damit als Musik der Lebenswirklichkeit wahrzunehmen und zugleich Musik, die mit diesen Elementen arbeitet, als Repräsentation der Lebenswirklichkeit (vgl. dazu insbesondere John Cages Komposition „4:33“).

In diesem Sinne: Hört dem Leben zu!

Anmerkungen:
(1) „Carnival of Souls“ (dt.: Tanz der toten Seelen) ist ein Low-Budget-Horrorfilm von 1962. Je nach Angaben wurde der Film mit einem Budget irgendwo zwischen 17 und 33 Tausend $ gedreht. Regie führte Herk Harvey, Hauptdarstellerin war Candace Hilligoss, die eine Ausbildung am Institut von Lee Strasberg absolviert hatte. Die übrigen Darsteller waren größtenteils Amateure, die immer wieder auftauchende Erscheinung wurde von Herk Harvey selbst gespielt.
Angeblich war Harvey bei einem Aufenthalt in Salt Lake City von der Stimmung in dem dortigen, verlassenen Saltair-Pavillon so beeindruckt, dass er zusammen mit John Clifford das Konzept zu diesem Film entwickelte. Das Drehbuch ist angelehnt an eine Kurzgeschichte von Ambrose Bierce (am bekanntesten von ihm ist wohl „Des Teufels Wörterbuch“), die z.B. unter dem deutschen Titel „Die Brücke über den Eulenfluss“ zu finden ist in: A.B.: Das Spukhaus. Gespenstergeschichten, Insel Verlag/Bibliothek des Hauses Usher (hrsg. von Kalju Kirde), Frankfurt am Main 1969.
Musikalisch bezug auf den Film nahmen auch Combustible Edison mit dem gleichnamigen Stück auf ihrem Album „I, Swinger“ (Sub Pop/City Slang, 1994).
(2) „Carnival“ darf keinesfalls gleichgesetzt werden mit den deutschen Begriffen Karneval/Fasching. Vielmehr muss es der Wortgruppe „Freak Show“ oder „Side Show“ (vgl. auch „Side Show Bob“ bei den „Simpsons“) zu-, also in den Kontext der obskuren Jahrmarkts-Attraktionen eingeordnet werden. Dort (re)präsentierten „Carnival Shows“ stets das seltsame, fremde und auch verstörende Andere.
Informationen erster Hand dazu bieten beispielsweise die Bücher von Daniel P. Mannix, selbst Feuer- und Schwertschlucker: Memoirs of a Sword Swallower; im Original von 1952; Ausgabe in meinem Archiv: Braniac Books, London 1992, mit eine Vorwort von Hershell Gordon Lewis – a.k.a. „King of Gore“. Und: Freaks: We Who Are Not Like Others; im Original 1976; Neuausgaben bei Re/Search, Publishers: Andrea Juno and V. Vale, San Francisco 1990ff – hey, zwei Exemplare aktuell in meinem Antiquariats-Bestand verfügbar!
In den 1970ern fanden diese Begrifflichkeiten dann auch Einzug in queere Subkulturen, am besten derzeit wohl repräsentiert in der Publikation: Charles Gatewood/William S. Burroughs: Sidetripping, Strawberry Hill Publishing Co. Inc., New York 1975; siehe auch: C.G.: Badlands. Photographs, Goliath, Frankfurt am Main1999.
(Interessant im etymologisch-sprachalchemistischen Sinne ist in Bezug auf C.G., dass ausgerechnet jemand mit dem Namen „Gatewood“ – meines Wissens nach kein Pseudonym –, also „TorWald“, sich photographisch mit diesen Grenzbereichen auseinandersetzt. Denn etymologisch lässt sich „Hexe“ ableiten von „hagazussa“, wobei „hag“ „Zaun, Hecke, Gehege“ bedeutet und „zussa“ in manchen Herleitungen im Sinne von „sitzend“ verstanden wird. Damit wäre die Hexe eine Person, die auf dem Zaun sitzt, also Vermittlerin ist zwischen Zivilisation und Wildnis – womit die Rolle dieser Frauen mit einem außergewöhnlichen Wissen sehr gut umschrieben wäre. In diesem Sinne wäre also Gatewood ebenfalls jemand, der das Tor zu der Wildnis, die weiterhin in unsere Zivilisation mit eingeschlossen ist, aufstößt.)
(3) Pere Ubu benannten sich nach der Hauptfigur des Theaterstücks „Ubu roi“ von Alfred Jarry (1873–1907, Anti-Bourgeois, Erfinder der Pataphysik und bis zu seinem Tode passionierter Fahrradfahrer). Ubus initialer Ausruf „Merdre!“ (im Deutschen übersetzt mit z.B. „Schreiße!“ oder „Scheitze!“) führte bei der Erstaufführung 1896 zu minutenlangen Tumulten. – Vor ca. 25 Jahren hatte ich die Gelegenheit, Jarrys ehemaligen Wohnraum in Paris, 7 Rue Casette zu besichtigen, ein ca. 1,5 Meter hohes Zwischengeschoss zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk. Der Raum, in dem sich noch immer ein altes Waschbecken und ein eisernes Bettgestell befanden, war nun Lagerraum der Buchhandlung Librairie Andrillon, und auf meine Nachfrage in eben dieser führte mich einer der dortigen Buchhändler freundlicherweise hinauf. Auf Grund der Raumhöhe konnte ich nicht anders, als mich nicht nur innerlich sondern auch körperlich vor dem Geist von Monsieur Jarry zu verneigen… Den Hinweis auf den Wohnraum hatte ich dem Buch „Adieu Paris. Literarische Lokaltermine“ von Ursula von Kardoff, Verlag Franz Greno, Nördlingen 1987 entnommen. – In diesem Jahr erschien auf Deutsch die umfangreiche Biographie „Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben“ von Alastair Brotchie im Piet Meyer Verlag Bern/Wien. – Die Darstellung Ubus oben in der Bildleiste stammt übrigens von Alfred Jarry selbst.

Playlist # 1: …und wir lieben uns trotzdem!

Wahre Liebe

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – und ein Ende. Und genauso wohnt jedem Ende ein Zauber inne – und ein Anfang. Beweis gefällig? Hier eine Liste von sieben großartigen, deutschsprachigen Abschieds- und Oder-vielleicht-doch-nicht so-ganz-Abschieds-Songs. Ideal zu hören in dieser Abfolge, viel Spaß!:

Die Crazy Girls: Lass Dir Zeit (Walk Don’t Run)
(V.A.: Surfin’ Germany; Bear Family Records 1989; im Original eine EMI/Columbia-Single in den späteren 1960ern)

Andreas Dorau: Gehen (Baby Baby)
(Todesmelodien; Staatsakt 2011)

Heidelinde Weis: Vorbei, vorbei!
(So sing ich; Intercord 1975)

Stereo Total: Schön von hinten
(monokini; Bungalow 1997)

F.S.K.: Gute Nacht
(Akt, eine Treppe hinabsteigend; Buback Tonträger 2012)

Max Raabe: Als ich Dich wollte
(Für Frauen ist das kein Problem; Palast Musik/Universal Music 2013)

Der Plan: Wenn wir beide auseinander gehen
(Die Peitsche des Lebens; Ata Tak 1990)

Der Samtene Untergrund

Banane_gelbThe Velvet UndergroundBanane_grün

Wäre ich nebenbei auch ein monetär reicher Mann, käme ich momentan vermutlich in die Versuchung, mir via eBay USA das „The Velvet Underground Scepter Studios Sessions“ Acetat von 1966 zu kaufen – eines von angeblich zwei bekannten Exemplaren (das andere soll Moe Tucker besitzen). Dabei handelt es sich um eine Testpressung des ersten Albums von The Velvet Underground & Nico, wie es ursprünglich geplant war, in alternativer Song-Abfolge und mit einigen der Songs in alternativer Abmischung (Toningenieur: John Licata; Aufnahmeleitung: Norman Dolph, der dafür ein Bild von Andy Warhol erhielt – auf lange Sicht sicherlich kein schlechter Tausch) – alles in allem deutlich rauer als das 1967 dann tatsächlich veröffentlichte Album.

Mir bekannte Veröffentlichungen dieses Acetats* sind eine eher inoffizielle Veröffentlichung um 2011/12 herum (einzige Angabe: XTV-122, angelehnt an die handschriftliche Original-Bezeichnung XTV 122 402 des Acetats) – sehr schön das Original-Cover des dann 1967 tatsächlich erschienenen Albums paraphrasierend (s.o.) – und eine offizielle CD-Veröffentlichung im Rahmen der „45th Anniversary Super Deluxe Edition“ (eben des regulären Albums) 2012 sowie auf Vinyl zum Record Store Day im selben Jahr. Von welchem Original sie auch immer stammen mögen (die offiziellen Veröffentlichungen angeblich von Moe Tuckers Exemplar), vermutlich wurde in allen Fällen etwas nachbearbeitet. Da ich das XTV-Repro auf der Buchlounge im April 2012 spielte, es da aber sicherlich schon einige Monate in meinem Besitz hatte, stammt es allerhöchstens von den Mastern der (mir bislang nicht zu Ohren gekommenen) „Deluxe Edition“. Im Vergleich zur RSD-Vinyl-Version klingt diese Pressung jedenfalls gleichzeitig schärfer und düsterer, also besser, und die zweite Seite beginnt im Gegensatz zur RSD-Version mit deutlichen Nebengeräuschen, die vom Original herstammen müssen.

Und das eine Original wäre nun, nach einem zuerst erfolglosen Versuch, es zu versteigern (s.u.), für 100.000 Dollar käuflich zu erwerben. Man darf auch Alternativ-Angebote abgeben… (Die, bis dato, vier eingegangenen Angebote wurden allesamt abgelehnt.) Angeblich hat das Acetat der Sammler Warren Hill ursprünglich 2002 für 75 Cent auf einem Straßenflohmarkt in New York erstanden, was für mich ziemlich nach einer „Urban Legend“ klingt. 2006 übernahm es auf einer Online-Auktion der jetzige, anonyme Besitzer für 25.200 Dollar, der es, eigenen Angaben nach, umgehend in ein Bankschließfach einlagerte, da er das Acetat als „Investition“ betrachtete. Und im Juli dieses Jahres kam es also wieder auf den Markt.

Der erste Versuch einer Online-Auktion endete am Montag, den 28. Juli 2014 um 17 Uhr (MESZ). Den Termin hatte ich mir fett im Kalender eingetragen, weil ich auf ein sensationelles Bieter-Feuerwerk hoffte. Und was passierte, an diesem Tag, um dieser Uhrzeit, bei dieser Auktion? Ca. zwei Sekunden vor Ende der Auktion sprang das letzte, tagelang stockende Angebot von 6000plusirgendwas Dollar auf 14.550 Dollar. Und das war’s dann. Und da saß ich nun – einerseits enttäuscht, andererseits aber auch mit einem unglaublich befriedigten Lächeln im Herzen: Recht geschehen, The Velvet Underground darf man schlichtweg nicht als merkantile „Investition“ betrachten! Schließlich haben wir es hier mit der definitiv größten Band aller Zeiten (sic!) zu tun, von der bereits Cher sagte: „Es ist kein Ersatz für irgendwas – außer vielleicht für Selbstmord.“** Oder mit Lou Reeds eigenen Worten:

„Jenny said when she was just five years old
There was nothing happenin’ at all
Every time she puts on the radio
There was nothing goin’ down at all, not at all
Then one morning she puts on a New York station
You know, she couldn’t believe
What she heard at all
She started shakin’ to that fine fine music
You know, her life was saved by rock’n’roll.”

Ja, und ungefähr so haben auch wir Pop-Zöglinge Mitte der 1980er-Jahre von The Velvet Underground erfahren. Damals, als es noch SWF 3 und SDR 3 gab, und auf einem der Sender, wenn ich mich recht entsinne, regelmäßig mittwochs gegen 20 Uhr, eine Stunde lang eine Sendung mit Alternative-Charts lief, bei der man u.a. Bands wie The Jesus and Mary Chain, My Bloody Valentine oder The Feelies zu hören bekam, über die man dann unweigerlich auf The Velvet Underground aufmerksam wurde.

Yeah, you know, our life was saved by Rock’n’Roll…

Daher, liebe Brüder und Schwestern, zieht hinaus in die Welt und besorgt Euch alles, was Ihr von The Velvet Underground finden könnt. – Am besten auf Vinyl, sonst kommt eventuell der Geist von Lou Reed und verflucht Euch mit Metal Machine Music. (Ganz großes Album – leider nur ganz selten auch so gewürdigt. Ich denke, nur noch „Philosophy of the World“ von den Shaggs macht einem das Hirn derart frei. Sprich: Großartige Chill-out-Musik!)

Update 20. August: Inzwischen wäre das Acetat mit 20 % Rabatt, sprich für 80.000 Dollar, zu haben. Ich überlege noch… :-)
Update Mitte September: „Sonderangebot“ wieder zurückgenommen, inzwischen 14 abgelehnte Alternativangebote.
Update Ende September: Bisherige Alternativangebote gelöscht; nun mit 25 % Rabatt, also für 75.000 Dollar, im Angebot.
Update Mitte Oktober: Der Festpreis wurde inzwischen auf 65.000 Dollar heruntergesetzt. Ich schätze, dass wird noch zu einem kleinen Lehrstück in Sachen „Wertanlage“. Der aktuelle Besitzer hat die Betonung wohl ein bisschen zu sehr eben darauf gelegt und damit potentielle Interessenten an dem wirklichen, dem musikalischen Artefakt ziemlich verärgert.
Update 28. Oktober: Erneut um 25 % reduziert, aktueller Preis damit 48.750 Dollar.
5. November 2014: Zu diesem Preis verkauft.

Anmerkungen:
*Acetat: Direkt geschnittene Schallplatte, die quasi im Umkehrprozess des Abspielens einer regulären Schallplatte entsteht, also nicht per Pressung, sondern direkt in den Tonträger graviert wird. (Siehe dazu auch eine Szene im Film „Die Marx Brothers im Kaufhaus“.) Auf Grund der dementsprechenden Materialeigenschaft des Tonträgers verliert ein Acetat mit jedem Abspielen an Qualität. Acetate wurden einzig zu Demonstrationszwecken erstellt, insbesondere um eine Plattenfirma für eine Single/ein Album zu finden, gegebenenfalls auch auf dem Umweg über DJs, die Acetate erhielten, um eine Song via Radio populär zu machen.
** Zitierte nach der Umschlag-Rückseite von: Victor Bockris / Gerard Malanga: up-tight. Die Velvet Underground Story, Sonnentanz-Verlag, Augsburg 1988 (2. Aufl. 1989)

Alle Abbildungen aus meinem Archiv:
Original-Cover der ersten LP und das Cover des besagten Bootlegs.
Cover des Taschenbuchs „The Velvet Underground“ von Michael Leigh (Macfadden Books, New York 1963; hier 4th Printing, April 1965; auf deutsch erschienen als: Leigh-Report. Sexuelles Gruppenverhalten in den USA, Hohwacht Verlag, Bad Godesberg 1965), nach dem sich die Band, die bis dahin nur unter dem Namen des Gesamtkunstwerks „Exploding Plastic Inevitable (Show)“ mitlief, benannte.

P.S.: Während ich dies schreibe läuft, nein, eben nicht The Velvet Underground, sondern die LP „Searching for the Young Soul Rebels“ von den Dexys Midnight Runners (eine andere Geschichte), die auch schon ziemlich runtergenudelt ist. Und da kam mir in den Sinn, dass das Knistern einer alten Schallplatte im Prinzip nichts anderes als die akustische Konkretisierung der elektrischen Erinnerungsfunken, die beim Hören zwischen den Gehirnsynapsen hin und her blitzen, über die Lautsprecher der Musikanlage ist.

Schallplattenregal

Vinyl 1

In dieser Kategorie geht es offensichtlich um Schallplatten. Nach und nach tauchen hier Rezensionen neuer oder alter Alben auf. Vorerst mögen die beiden Photos als Platzhalter dienen. Aufgenommen und bearbeitet wurden sie von Janosch Geiger, der mir auch die Abbildung, die in der Kopfleiste dieser Webseite zu sehen ist, zur Verfügung gestellt hat. (Hey, danke dafür, wie auch für die Tipps zur Erstellung dieses Blogs!) Janoschs eigener Blog ist über den „Geigerphotos“-Link, der rechts im Kontextmenü zu finden sein sollte, aufrufbar.

Vinyl 2