Ein Nachtrag

Rauchende Köpfe

Die Reaktionen auf meinen ersten Einwurf zum Thema Corona waren überwältigend. Sehr viel Zustimmung, Dankeschön dafür! Aber auch einige kritische Stimmen; ein ebenso großes Dankeschön dafür, denn diese schärfen den Blick auf bis dahin blinde Flecken im eigenen Denken. Der besonders schöne Nebeneffekt: Plötzlich ergab sich wieder ein Kontakt zu Menschen, die ich oder die mich im Lauf der Jahre aus den Augen verloren hatte/n. Und es wurde der Wunsch geäußert, ganz grundsätzlich öfters miteinander zu sprechen, direkt miteinander zu kommunizieren – wenngleich sich das in der aktuellen Situation schwierig gestaltet, jedenfalls über die Telekommunikation hinaus. Aber alleine der Wunsch ist ja ein Anfang.

Dieser Eintrag soll dazu dienen, eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, die ich meine in den eher kritischen Rückmeldungen durchscheinen zu sehen.

Hier ein Screenshot der Süddeutschen Zeitung online, darin zu sehen ein Artikel, der die ersten Studien zu den psychosozialen Folgen der Corona-Isolation zum Inhalt hat.

Corona_SZ_200321

Genau darauf basiert ein Teil meiner Kritik. Ich bin keinesfalls naturwissenschaftsskeptisch, schätze beispielsweise wie viele die fundierten und besonnenen Einschätzungen von Christian Drosten sehr. Skeptisch sehe ich hingegen die Prioritätensetzung, plakativ gesagt: Zuerst kommt die Naturwissenschaft, dann Ökonomie und Recht, dann lange gar nichts, und dann langsam Soziologie, Psychologie und möglicherweise sogar Geisteswissenschaften. Da wird mir mulmig bei.

Im Screenshot rechts daneben einer dieser Artikel, die mich zu meinem kleinen Ausfall gegen „verlogene Aufrufe zur Corona-Solidarität“ verleiteten. Selbstverständlich ist mir die gelebte Solidarität ein sehr wichtiges, nicht zu überschätzendes Gut. Und selbstverständlich stelle ich gegenseitige Rücksichtnahme zum eigenen Schutz und dem der anderen und ein dementsprechendes verantwortungsvolles Verhalten in keinster Weise in Abrede. Mein Einwurf bewegt sich jedoch im Rahmen einer medialen und politischen Kritik. Altväterlich wird da plötzlich zur Solidarität mit den Alten und Schwachen gemahnt (und ich betone nochmals: freilich nicht unberechtigt). Wenn sich hingegen eine junge Generation um ihre Zukunft sorgt, wie etwa „Fridays for Future“, dann wird leider sehr oft völlig unsolidarisch von kleinen Dummchen und Hysteriker*innen geredet, die doch bitteschön weiterhin brav ihre Hausaufgaben machen sollten. Ich meine gewisse Widersprüche zu erkennen, womöglich gar die Vertiefung eines Generationskonflikts, mit dem leider keiner Seite gedient ist.

Und als letztes: Ich nehme die Corona-Gefahr ernst, sehr ernst. Und erst recht, seit ich als eine der Antwortmails die eines Arztes bekam, der in der Notaufnahme eines Krankenhauses arbeitet und der mich darin auf ein mir bis dato unbekanntes Dokument aus vom Januar 2013 aufmerksam macht, mit dem Kommentar: „Dort wird z.B. der voraussichtliche Mangel an Schutzausrüstungen für Ärzte und Pflegekräfte, der Mangel an Krankenhausbetten etc. detailliert beschrieben. Es wurde viele Jahre nichts, überhaupt nichts vorbereitet!“

Das besagte Dokument ist völlig unkonspirativ abrufbar im Dokumentations- und Informationssystem (DIP) des Deutschen Bundestags und trägt den Titel „Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ (Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/12051 vom 3.1.2013). Darin wird u.a. ausführlich die Gefahr einer Pandemie in Deutschland durch einen modifizierten SARS-Virus durchgespielt (Kapitel 2.3, S. 5/6 und Anhang 4 ab S. 55: „Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund. Pandemie durch Virus ‚Modi-SARS‘, Stand: 10.12.2012“). Diese „wurde unter fachlicher Federführung des Robert Koch-Instituts und Mitwirkung weiterer Bundesbehörden durchgeführt.“ (S. 5) Und sie liest sich wie das Drehbuch zu dem, was wir aktuell erleben müssen.

Auf Seite 56 ist zu lesen: „Eintrittswahrscheinlichkeit: Klasse C: bedingt wahrscheinlich / ein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt“. Im Haupttext (S. 12) wird jedoch gewarnt: „Zwar sind die entsprechenden Eintrittswahrscheinlichkeiten für solche Ereignisse deutlich geringer, doch ist ihr Eintreten gleichwohl jederzeit möglich, wie es das katastrophale Ereignis von Fukushima eindrücklich belegt hat.“ Auf S. 65 ist vermerkt: „Die enorme Anzahl Infizierter, deren Erkrankung so schwerwiegend ist, dass sie hospitalisiert sein sollten bzw. im Krankenhaus intensivmedizinische Betreuung benötigen würden, übersteigt die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches (siehe Abschnitt KRITIS, Sektor Gesundheit, medizinische Versorgung). Dies erfordert umfassende Sichtung (Triage) und Entscheidungen, wer noch in eine Klinik aufgenommen werden und dort behandelt werden kann und bei wem dies nicht mehr möglich ist. Als Konsequenz werden viele der Personen, die nicht behandelt werden können, versterben.“ Diesem Absatz zugeordnet ist Anmerkung 7: „Bisher gibt es keine Richtlinien, wie mit einem Massenanfall von Infizierten bei einer Pandemie umgegangen werden kann. Diese Problematik erfordert komplexe medizinische, aber auch ethische Überlegungen und sollte möglichst nicht erst in einer besonderen Krisensituation betrachtet werden.“ Und auf S. 62 findet sich eine angenommene Verlaufskurve, die gewisse Ähnlichkeiten hat mit der, ich nenne es mal: „Sendung mit der Maus“-Version, die allgemein aus den Medien bekannt sein sollte. Also die mit dem steilen Berg, der die Belastungsgrenze des Gesundheitssystem überragt, und dem gemütlichen Hügel, der darunter bleibt. Aber eben auch deutliche Unterschiede.

So, und da werde ich wütend. Denn was ist die letzten Jahre im Gesundheitswesen tatsächlich geschehen? Der Umbau eines Systems, dass dem Menschen dienen sollte, zu einem System, das Gewinne erzielen muss. Vorangetrieben oder zumindest geduldet von den Herren, die nun den staatsmännischen Krisenmanager und sich besorgt geben, dass das Gesundheitswesens zusammenbrechen könnte. Ein Gesundheitswesen, das bis zur Unerträglichkeit Menschen auspresst, die nur noch als lästiger Kostenfaktor gelten, und in dem kleinere, „unrentable“ Kliniken, oft in ländlichen Gegenden, geschlossen werden. Ein Gesundheitswesen, das eigentlich bereits zusammengebrochen ist. Während ich dies schreibe, erscheint in der taz online, 22.03.2020 der Artikel „Kurzarbeit im Krankenhaus?“, in dem die Schön-Klinik-Sprecherin Astrid Reining (Hamburg) zitiert wird: „Viele Krankenhäuser stehen angesichts der derzeitigen Lage vor großen finanziellen Herausforderungen und geraten in Liquiditätsengpässe.“ Oh ja, es werden noch sehr viele unangenehme und unbequeme Diskussionen zu führen sein.

Aber wie immer gibt es die kleinen Momente der Hoffnung. So vermerkt der Bericht auf S. 79: „Im vorliegenden Szenario wird davon ausgegangen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich solidarisch verhält und versucht, die Auswirkungen des Ereignisses durch gegenseitige Unterstützung und Rücksichtnahme zu verringern. Ähnlich solidarische Verhaltensweisen wurden vielfach bei anderen Extremsituationen beobachtet.“ In diesem Sinne also: Bleibt achtsam UND solidarisch. Ach ja, und denkt über eure Handy-Mobilität nach.

Hier eine PDF meiner beiden bisherigen Texte zum Thema Corona in zusammengefasster und leicht überarbeiteter Version: Markus_Baumgart_Corona_toetet_Kultur_200326

Corona tötet Kultur. Ein Appell zu anderer Achtsamkeit

Kulturtod

Sorry, aber ich muss mal eben in die Suppe spucken. Ja, das Folgende ist eine völlig subjektive, unausgewogene, einseitige, trotzige, nicht alle Seiten von vorne bis hinten abwägende Polemik, die sich somit voll in die Nesseln setzt. Der Narr bezieht jedoch gerne die Prügel für die Botschaft, Hauptsache es wird sich mit ihr auseinandergesetzt. Sich in einen Corona-Angst-Kokon und ganz im Privaten einzunisten, nur weil ein Teil der Gedanken verunsichern könnte, das geht auf Dauer nämlich nicht gut. Und nein, ich bin kein Verschwörungstheoretiker, sondern versuche, einfach nur mit kulturwissenschaftlichem Blick zu beobachten.

Und das, was ich auf dieser Basis befürchte, ist eine Katastrophe, die weit über die Corona-Pandemie hinausreicht. Nämlich die Abschaffung jedes demokratischen, kulturellen und insbesondere links-alternativen, subkulturellen Denkens, Handelns und Wirkens. Diese Destruktion ist vermutlich gar nicht primär geplant, also in Form einer Verschwörung, weil das auf Hegemonie basierende kapitalistische System eine solche überhaupt nicht mehr nötig hat. Sondern ganz einfach ein willkommener Kollateralschaden, sprich: ein Kollateralgewinn im Sinne der Hegemonialmacht, für die es ein Denken abseits der eingeschliffenen Seilschaften nicht mehr gibt und geben darf. Corona ist der zur Realität gewordene Traum aller Rechtspopulisten und neoliberalen Ideologen. Einfach mal alle Läden und kulturellen Einrichtungen über Wochen schließen – na, wer wird denn da wohl der große Verlierer sein? Freilich all die kleinen Kultureinrichtungen (und damit meine ich auch alternative Clubs, Ateliers, Buchhandlungen, Plattenläden, Second-Hand-Shops etc.), die von wenigen Aktivist*innen oder gar Einzelpersonen getragen werden und gerade deshalb oft Orte devianten, widerspenstigen Denkens sind. Und finanziell sowieso auf Kante genäht. Wird dementsprechend am Ende nur gerettet, was im Sinne des totalen Kapitalismus systemrelevant ist, werden solche Orte schlichtweg durch Passivität abgeschafft. Neue Gesetze, durchschaubare Etatkürzungen und Polizeieinsätze sind nicht mehr nötig, sie werden stillschweigend nebenbei ausgeblutet.

Dafür kann die Polizei nun in Parks und auf Spielplätzen einsetzt werden, um den Kindern und Jugendlichen, die sich dort entgegen allen Anweisungen anarchistisch zusammenrotten, von Anfang an beizubringen, was Sache ist, wer das Sagen hat. Eindrücklich erschreckende Bilder sind das, die die Berichte in der „bürgerlichen Presse“ teilweise begleiten. So erschreckend wie die tendenziell gleiche Ausrichtung dieser Medienberichte. Nein, damit will ich nicht in das Horn populistischer Medienschelte blasen. Aber ist es nicht furchtbar, welche Zeichen da zum einen gesetzt werden, zum anderen, wie wenig Widerspruch laut wird? Grundtenor ist: Also wenn die Menschen so unvernünftig sind, dann können ja nur noch Ausgangssperren verhängt werden. Kaum ein kritischer Gedanke irgendwo, Führer*innen-Hörigkeit aller Orten. Gegenstimmen, ein kritisches Abwägen, eine ernsthafte Diskussion? Fehlanzeige. Corona, deutsch: die Krone, herrscht und droht unhinterfragt.

Und die praktische Seite: nebulös. Gesetzt ist, die Kinder zu Hause zu behalten, dazuhin empfohlen ist Homeoffice, und nebenbei der Online-Unterricht der Schulkinder. Perfekt, kein Problem. Selbstverständlich arbeiten wir konzentriert in einer Zwei-Zimmer-Wohnung via Homeoffice während wir ein zweijähriges Kind betreuen, auch wenn mit einem solchen kaum ein ordentliches Telefonat alleine mit Freund*innen zu führen ist. Und selbstverständlich kann unser Internet jederzeit und überall gleichzeitig Homeoffice und eine Online-Lern-Plattform für alle bewältigen. Und selbstverständlich leben alle Kinder in einem sozialen Umfeld, in dem sie die bestmögliche elterliche Betreuung bekommen. Egal, irgendwie prügeln wir das Wissen und die Systemkonformität schon in sie rein. Aber ob das der sogenannten Herdenimmunität auch in virologischer Hinsicht nachhaltig und langfristig dient?

Ich bin entsetzt und fürchte das Schlimmste. Jedoch nicht wegen des Virus, der zumindest hinbekommen hat, was die Linke schon lange nicht mehr geschafft hat: Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still. (Voraussichtlich leider wenig nachhaltig im Hinblick auf Arbeitsrechte, einen weltweiten Grundlohn, Ökologie usw. etc.) Sondern wegen einer weiteren Zerstörung der Menschen- und Bürgerrechte, eines alternativen politischen, intellektuellen und vor allem grundsätzlich humanistischen Standpunkts, der vom Menschen ausgeht und nicht vom System, und somit des wirklichen sozialen Zusammenlebens – insbesondere in diesem Punkt bin ich gerne bereit, diese m.E. teils unglaublich verlogenen Aufrufe zur Corona-Solidarität zu diskutieren, z.B. bei Betrachtung der medialen Darstellung von „Fridays for Future“ als quasi demographisch kongruentem Gegenstück.

Aber: Zugleich ist das eine große Chance für einen alternativen Entwurf wirklicher, gelebter Solidarität und kultureller Pluralität. So oft meine ich sie wahrgenommen zu haben und wahrzunehmen, diese Resignation vieler kluger Menschen innerhalb des Kulturbetrieb, die mit ihrem Tun nichts anderes wollen, als einen positiven Impuls zurück in die Gesellschaft zu geben. Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so, die ökonomischen Zwänge, und mach nur einen Plan und sei ein helles Licht… Kann das, soll das das letzte Wort gewesen sein? Wollen wir wirklich allen, die hämisch darauf lauern, gar aktiv dazu beitragen, dass sich jede kritische Alternativkultur atomisiert, das letzte Wort überlassen? Nein, das kann es doch wohl nicht gewesen sein. Also: Achtet nicht nur auf eure Gesundheit, seid bitte auch besonders aufmerksam im Hinblick auf unsere Kultur- und Zivilgesellschaft. Gerade weil es für deren Rettung wohl noch nicht mal einen Plan gibt, die Diskussion darüber deshalb umso notwendiger ist.

Und hier noch ein Buchtipp zur aktuellen Situation: Haus Bartleby (Hg.): Sag alles ab! Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik, Edition Nautilus, Hamburg 2015

Und der Text als PDF: Markus_Baumgart_Corona_toetet_Kultur