Ein Nachtrag

Rauchende Köpfe

Die Reaktionen auf meinen ersten Einwurf zum Thema Corona waren überwältigend. Sehr viel Zustimmung, Dankeschön dafür! Aber auch einige kritische Stimmen; ein ebenso großes Dankeschön dafür, denn diese schärfen den Blick auf bis dahin blinde Flecken im eigenen Denken. Der besonders schöne Nebeneffekt: Plötzlich ergab sich wieder ein Kontakt zu Menschen, die ich oder die mich im Lauf der Jahre aus den Augen verloren hatte/n. Und es wurde der Wunsch geäußert, ganz grundsätzlich öfters miteinander zu sprechen, direkt miteinander zu kommunizieren – wenngleich sich das in der aktuellen Situation schwierig gestaltet, jedenfalls über die Telekommunikation hinaus. Aber alleine der Wunsch ist ja ein Anfang.

Dieser Eintrag soll dazu dienen, eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, die ich meine in den eher kritischen Rückmeldungen durchscheinen zu sehen.

Hier ein Screenshot der Süddeutschen Zeitung online, darin zu sehen ein Artikel, der die ersten Studien zu den psychosozialen Folgen der Corona-Isolation zum Inhalt hat.

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Genau darauf basiert ein Teil meiner Kritik. Ich bin keinesfalls naturwissenschaftsskeptisch, schätze beispielsweise wie viele die fundierten und besonnenen Einschätzungen von Christian Drosten sehr. Skeptisch sehe ich hingegen die Prioritätensetzung, plakativ gesagt: Zuerst kommt die Naturwissenschaft, dann Ökonomie und Recht, dann lange gar nichts, und dann langsam Soziologie, Psychologie und möglicherweise sogar Geisteswissenschaften. Da wird mir mulmig bei.

Im Screenshot rechts daneben einer dieser Artikel, die mich zu meinem kleinen Ausfall gegen „verlogene Aufrufe zur Corona-Solidarität“ verleiteten. Selbstverständlich ist mir die gelebte Solidarität ein sehr wichtiges, nicht zu überschätzendes Gut. Und selbstverständlich stelle ich gegenseitige Rücksichtnahme zum eigenen Schutz und dem der anderen und ein dementsprechendes verantwortungsvolles Verhalten in keinster Weise in Abrede. Mein Einwurf bewegt sich jedoch im Rahmen einer medialen und politischen Kritik. Altväterlich wird da plötzlich zur Solidarität mit den Alten und Schwachen gemahnt (und ich betone nochmals: freilich nicht unberechtigt). Wenn sich hingegen eine junge Generation um ihre Zukunft sorgt, wie etwa „Fridays for Future“, dann wird leider sehr oft völlig unsolidarisch von kleinen Dummchen und Hysteriker*innen geredet, die doch bitteschön weiterhin brav ihre Hausaufgaben machen sollten. Ich meine gewisse Widersprüche zu erkennen, womöglich gar die Vertiefung eines Generationskonflikts, mit dem leider keiner Seite gedient ist.

Und als letztes: Ich nehme die Corona-Gefahr ernst, sehr ernst. Und erst recht, seit ich als eine der Antwortmails die eines Arztes bekam, der in der Notaufnahme eines Krankenhauses arbeitet und der mich darin auf ein mir bis dato unbekanntes Dokument aus vom Januar 2013 aufmerksam macht, mit dem Kommentar: „Dort wird z.B. der voraussichtliche Mangel an Schutzausrüstungen für Ärzte und Pflegekräfte, der Mangel an Krankenhausbetten etc. detailliert beschrieben. Es wurde viele Jahre nichts, überhaupt nichts vorbereitet!“

Das besagte Dokument ist völlig unkonspirativ abrufbar im Dokumentations- und Informationssystem (DIP) des Deutschen Bundestags und trägt den Titel „Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ (Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/12051 vom 3.1.2013). Darin wird u.a. ausführlich die Gefahr einer Pandemie in Deutschland durch einen modifizierten SARS-Virus durchgespielt (Kapitel 2.3, S. 5/6 und Anhang 4 ab S. 55: „Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund. Pandemie durch Virus ‚Modi-SARS‘, Stand: 10.12.2012“). Diese „wurde unter fachlicher Federführung des Robert Koch-Instituts und Mitwirkung weiterer Bundesbehörden durchgeführt.“ (S. 5) Und sie liest sich wie das Drehbuch zu dem, was wir aktuell erleben müssen.

Auf Seite 56 ist zu lesen: „Eintrittswahrscheinlichkeit: Klasse C: bedingt wahrscheinlich / ein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt“. Im Haupttext (S. 12) wird jedoch gewarnt: „Zwar sind die entsprechenden Eintrittswahrscheinlichkeiten für solche Ereignisse deutlich geringer, doch ist ihr Eintreten gleichwohl jederzeit möglich, wie es das katastrophale Ereignis von Fukushima eindrücklich belegt hat.“ Auf S. 65 ist vermerkt: „Die enorme Anzahl Infizierter, deren Erkrankung so schwerwiegend ist, dass sie hospitalisiert sein sollten bzw. im Krankenhaus intensivmedizinische Betreuung benötigen würden, übersteigt die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches (siehe Abschnitt KRITIS, Sektor Gesundheit, medizinische Versorgung). Dies erfordert umfassende Sichtung (Triage) und Entscheidungen, wer noch in eine Klinik aufgenommen werden und dort behandelt werden kann und bei wem dies nicht mehr möglich ist. Als Konsequenz werden viele der Personen, die nicht behandelt werden können, versterben.“ Diesem Absatz zugeordnet ist Anmerkung 7: „Bisher gibt es keine Richtlinien, wie mit einem Massenanfall von Infizierten bei einer Pandemie umgegangen werden kann. Diese Problematik erfordert komplexe medizinische, aber auch ethische Überlegungen und sollte möglichst nicht erst in einer besonderen Krisensituation betrachtet werden.“ Und auf S. 62 findet sich eine angenommene Verlaufskurve, die gewisse Ähnlichkeiten hat mit der, ich nenne es mal: „Sendung mit der Maus“-Version, die allgemein aus den Medien bekannt sein sollte. Also die mit dem steilen Berg, der die Belastungsgrenze des Gesundheitssystem überragt, und dem gemütlichen Hügel, der darunter bleibt. Aber eben auch deutliche Unterschiede.

So, und da werde ich wütend. Denn was ist die letzten Jahre im Gesundheitswesen tatsächlich geschehen? Der Umbau eines Systems, dass dem Menschen dienen sollte, zu einem System, das Gewinne erzielen muss. Vorangetrieben oder zumindest geduldet von den Herren, die nun den staatsmännischen Krisenmanager und sich besorgt geben, dass das Gesundheitswesens zusammenbrechen könnte. Ein Gesundheitswesen, das bis zur Unerträglichkeit Menschen auspresst, die nur noch als lästiger Kostenfaktor gelten, und in dem kleinere, „unrentable“ Kliniken, oft in ländlichen Gegenden, geschlossen werden. Ein Gesundheitswesen, das eigentlich bereits zusammengebrochen ist. Während ich dies schreibe, erscheint in der taz online, 22.03.2020 der Artikel „Kurzarbeit im Krankenhaus?“, in dem die Schön-Klinik-Sprecherin Astrid Reining (Hamburg) zitiert wird: „Viele Krankenhäuser stehen angesichts der derzeitigen Lage vor großen finanziellen Herausforderungen und geraten in Liquiditätsengpässe.“ Oh ja, es werden noch sehr viele unangenehme und unbequeme Diskussionen zu führen sein.

Aber wie immer gibt es die kleinen Momente der Hoffnung. So vermerkt der Bericht auf S. 79: „Im vorliegenden Szenario wird davon ausgegangen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich solidarisch verhält und versucht, die Auswirkungen des Ereignisses durch gegenseitige Unterstützung und Rücksichtnahme zu verringern. Ähnlich solidarische Verhaltensweisen wurden vielfach bei anderen Extremsituationen beobachtet.“ In diesem Sinne also: Bleibt achtsam UND solidarisch. Ach ja, und denkt über eure Handy-Mobilität nach.

Hier eine PDF meiner beiden bisherigen Texte zum Thema Corona in zusammengefasster und leicht überarbeiteter Version: Markus_Baumgart_Corona_toetet_Kultur_200326