Ja, das ist ernsthaft mein Vorschlag für das Unwort des Jahres 2020: „systemrelevant“. Kurzbegründung: „systemrelevant“ ist das (Tot-)Schlagwort derer, die zu faul und vor allem zu systemimmanent verfangen sind, um über das gegebene System nach- und darüber hinaus zu denken. „Systemrelevant“ ist das Pendant zu „alternativlos“.
Freilich, innerhalb eines privatisierten Gesundheitssystems, in dem in Deutschland eine Pflegekraft auf zehn Patienten kommt – zumindest im rechnerischen „Idealfall“ – sind Pflegekräfte systemrelevant, weil das ganze System am Rande des Zusammenbruchs steht. Stellt man sich aber gedanklich neben das aktuelle System und geht von einem am Menschen ausgerichteten Gesundheitssystem aus, dann ist das Berufsfeld Pflegekraft heutzutage ein beschämendes Beispiel dafür, was aus dem Menschen wird, wenn er innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik zum bloßen Kostenfaktor wird. Fraglos wären Pflegekräfte auch ein einem alternativ gedachten Gesundheitssystem weiterhin systemrelevant. Allerdings wäre das dann eine Selbstverständlichkeit und müsst nicht mehr derart betont werden. Das momentan überall angestimmte Lied von der Systemrelevanz ist nichts anderes als das sprichwörtliche Pfeifen im Wald alleine aus Angst, dass das aktuelle System zusammenbrechen könnte.
Heutzutage systemrelevant sind Kindertagesstätten und Schulen vor allem, weil sie die Kinder in das aktuelle Verwertungs- und Konkurrenzsystem hinein sozialisieren und zugleich den Eltern ermöglichen sollen, systemrelevant innerhalb dieses Systems Mehrwert im kapitalistischen Sinne zu produzieren. Innerhalb dieser sich zunehmend als irrig herausstellenden Logik sind sogar die Autoindustrie und Schlachthöfe systemrelevant. Leider ist, ebenfalls mal kurz abseits dieser Logik gedacht, vieles im Gegenteil eben nicht systemrelevant, sondern systemzerstörend im Hinblick auf z.B.: Ökologie, Todesstatistiken, verödende Innenstädte, eine desaströse Lebensmittelindustrie, Fehlernährung, gesellschaftliche Entsolidarisierung, Hetze und Rassismus, ganz zu schweigen von globaler Ungleichheit. Das bestehende System ist schlichtweg ein faulender Stamm, und Systemrelevanz innerhalb dieses Systems dementsprechend in erster Linie ein Fäulnisbeschleuniger.
Würde „Systemrelevanz“ ein grundlegend relevantes Denken meinen, käme dies einem radikalen Umdenken gleich, weil nicht mehr vom Kapital, sondern vom Menschen aus gedacht werden müsste. Zuerst müsste nämlich gefragt werden, wozu all das, womit die Menschen ihre tägliche Zeit verbringen, eigentlich gut sein soll, welchen Sinn die Produktion von Gütern grundsätzlich hat. Die Antwort könnte nur lauten, dass es in einem ganzheitlichen Sinne systemrelevant wäre, die Ökonomie an der Ökologie und am Menschen auszurichten. Wirkmächtig systemrelevant wäre es dann, an erster Stelle umgehend die Umverteilung von Unten nach Oben zu stoppen und für Steuergerechtigkeit zu sorgen, indem bislang zwar legale, aber letztlich illegitime Steuervermeidungstricks unterbunden werden. Um reales Geld zu generieren, das dem gesamtgesellschaftlichen System von der Geburt und der darauf folgenden Bildung bis hin zum Gesundheitssystem und einem menschenwürdigen Sterben zugute käme, also einem Sozialleben, in dem die Würde des Menschen tatsächlich im Vordergrund stünde.
Wenn wir so weit sind, werde ich „systemrelevant“ als Wort des Jahres vorschlagen.